Schüler mit Förderbedarf im Distanzunterricht II

In dieser Reihe von Blogbeiträgen wird die Arbeit mit Schüler*innen mit Förderbedarf an einer Gemeinschaftsschule in Berlin-Neukölln dargestellt werden. Es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, sondern die Situation und Evolution dargestellt. Bisherige Beiträge werden nach Bedarf kommentiert aktualisiert (siehe Ende des Beitrages:

Lernbarrieren von Schüler*innen mit Förderbedarf während des Distanzunterrichts

Während der letzten drei Wochen setzen wir uns mit den vielfältigen Lernbarrieren der Schüler*innen. Für diesen Beitrag werden drei Barrieren genauer betrachtet:

  • Die Tagesstruktur
  • Digitale Endgeräte – eine Hürde
  • Design der genutzte Plattformen des digitalen Lernens

Es ist nicht in jedem Fall möglich, diese drei Barrieren eindeutig voneinander zu trennen. So stehen beispielsweise die fehlenden Kompetenzen in der Nutzung von digitalen Endgeräten in einer engen Beziehung zu der Nutzung von digitalen Plattformen. In gewissem Sinne ist die Nutzung der Geräte eine wichtige Lernvoraussetzung, ohne die ein souveräner und selbstständiger Umgang mit den Plattformen überhaupt erst möglich wird.

Eine individuelle Barriere, die besonders in der Covid 19 Pandemie bei Schüler*innen hervortritt ist ein Mangel von ausreichender Eigenmotivation, der bei einigen Schüler*innen hervortreten kann. Ich habe allerdings auch ein eklatantes Gegenteil erlebt. Ein*e Schüler*in mit Förderbedarf im Bereich der sogenannten emotionalen und sozialen Entwicklung hat eine solche Eigenmotivation entwickelt, dass das manchmal unruhige Verhalten im Unterricht sich in eine enorme Konzentration und hohe Frustrationstoleranz umgewandelt hat. Mehr dazu später.

Die Tagesstruktur

Für die Schüler*innen hat sich innerhalb kurzer Zeit der Alltag komplett verändert: Der regelmäßige Schulrhythmus fällt weg, der wesentliche Aufenthaltsort ist das eigene zu Hause und die individuelle Freizeitgestaltung der Schüler*innen, oft gemeinsam mit Freund*innen. Gerade für Schüler*innen mit dem sogenannten Förderbedarf Lernen beispielsweise entstehen so enorme Schwierigkeiten der in Alltag. Der Stundenplan in der Schule gibt einen Rhythmus vor und schafft eine Verlässlichkeit. Durch das selbstständige Lernen zu Hause entstehen neue Freiräume, die ungewohnte Entscheidungen erzwingen: „stehe ich um 7 auf, oder er um 11?“, „Mache ich meine Aufgaben heute oder am Freitag?“ oder „jetzt noch kurz bis um 3 Uhr morgens an der Play Station spielen…“. Die eigene Organisation in diesem Freiraum fällt vielen Schüler*innen schwierig. Das Fehlen der Freizeitgestaltung mit Freund*innen erschwert eine Entspannung und soziales Miteinander.

So muss eine enorme Energie aufgewandt werden, um sich selbst zu einem organisierten Arbeiten zu motivieren. Eltern und Geschwister können natürlich eine Struktur geben, dies ist aber nicht immer der Fall. Häufig haben Schüler*innen keinen individuellen Arbeitsplatz, ein eigenes Zimmer oder ein digitales Endgerät, an dem sie arbeiten können.

Digitale Endgeräte – eine Hürde

Für die Bildungspolitik in Deutschland spielt die Digitalisierung und die Förderung der Kompetenzen, um mit den unterschiedlichsten digitalen Medien umzugehen, eine wichtige Rolle (Kultusminister Konferenz: Bildung in der digitalen Welt – 2016). Im Moment zeigt sich aber, dass viele Schüler*innen sich bisher nicht einmal in einer Ausgangslage befinden, die ein sinnvolles Lernen mit digitalen Medien zuläßt. Hier eine Auflistung beobachteter Probleme:

  • Unzureichende Endgeräte: An unserer Schule haben ein Anteil der Schüler*innen keine Computer zu Hause, die sinnvoll ausgestattet sind (z.B. mit WIFI, Drucker, Kamera, Videokamera…). Oft arbeiteten sie bisher mit ihren Handys, lasen dort PDFs auf DIN-A4 Blättern, bearbeiten Aufgaben. Seit Anfang Januar wurden die Schüler*innen wie an vielen Berliner Schulen mit Tabletts (inklusive einer Tastatur) ausgestattet, um die Arbeitsfähigkeit zu verbessern
  • Schreiben an der Tastatur: In meiner Arbeit mit den Schüler*innen, sowohl mit als auch ohne Förderbedarf, konnte ich feststellen, dass sie nicht die Grundlagen im Umgang mit einer Tastatur haben. Die korrekte Eingabe eines Passwortes mit versteckten Buchstaben kann bis zu 15 Minuten dauern oder das Schreiben von Sätzen zieht sich in die Länge. Das Schreiben mit der Tastatur dauert lange und die Funktionsweise ist nicht allen klar (z.B. bei der Eingabe des Kennwortes, der Zugang zu den Sonderzeichen wie %, &, *…..). Diese grundlegenden Fähigkeiten digitaler Schreib- und Arbeitsfähigkeit wurde in vielen Fällen nicht vermittelt und die fehlenden Kompetenzen fallen jetzt erst auf.
  • Parallelen Zugriff auf Medien: Die Arbeit an Texten oder der Umgang mit anderen Medien und das folgende Bearbeiten von Texten erfordert einen direkten Zugriff auf das Arbeitsmaterial, sei es am Bildschirm oder auf Papier. Gleichzeitig müssen die Schüler*innen eine Möglichkeit haben parallel Aufgaben zu beantworten oder zu bearbeiten die einen direkten Zugriff auf das Material erfordern. Dies kann z.B. durch Parallele Bildschirme oder Texte in Papierform ermöglicht werden.

Diese Auflistung ist nicht vollständig. Sie stellt einen Ausschnitt der Lernrealität einiger unserer Schüler*innen dar, um die Lernbarrieren zu illustrieren, die wahrscheinlich einer Menge Schüler*innen „ein Bein stellen“. Lösungen hierfür ließen sich relativ schnell finden und umsetzen, wie es beispielsweise an unserer Schule praktiziert wird.

Digitale Lernplattformen und ihre Barrieren

An unserer Schule wird seit dem Sommer 2020 die Plattform Microsoft Teams genutzt: Aufgaben wurden online gestellt, Schüler*innen bearbeiten sie und es findet ein reger Austausch via Videokonferenz sowie Chat statt. Die Kolleg*innen nutzen Teams für Koordination. Unser Fachbereich Inklusion nutzt Teams, um die Stundenpläne der individuellen Arbeit mit den Schüler*innen zu verteilen, die wöchentliche Dokumentation der Begleitungen zu bündeln und wo möglich in die Fachteams der Kolleg*innen Einsicht zu erhalten. Für diesen Beitrag ist es unerheblich, welche digitale Plattform genutzt wird. Jede mir bekannte Platform hat Vor- und Nachteile. Der Blick soll auf die Lernbarrieren für die Schüler*innen gelenkt werden. Dieser Beitrag erkennt die Flexibilität unserer Kolleg*innen an, sich kompetent auf diese neue, herausfordernde Situation einzulassen, Ideen zu entwickeln, wie das Lernen gelingen kann, die Entwicklung von interessanten Aufgaben, die eine Differenzierung ermöglichen und die mit einer enormen Motivation mit den Schüler*innen arbeiten.

In der individuellen Arbeit mit den Schüler*innen konnte wir an der Schule eine Reihe von Problemen identifizieren, die für Schüler*innen Lernbarrieren sind. Diese Barrieren hängen teilweise direkt an den digitalen Lernplattformen (jede hat ihre eigenen Herausforderungen), zum Teil treten Schwierigkeiten durch die digitale Aufbereitung von Materialien, wie auch Aufgaben hervor und zu guter Letzt bleiben die üblichen Herausforderungen, die mit der Aufbereitung von Materialien wie auch Aufgaben zusammenhängen, also auch von der Lernplattform unabhängige pädagogische Probleme.

  • Übersichtlichkeit der Plattform: Der Platform Microsoft Teams ist anzumerken, dass sie ursprünglich für Unternehmen von einem Konzern entwickelt wurde. Es bieten sich vielfältige Möglichkeiten der Konfiguration und Administration. Auch wenn diese Vielfalt von Darstellungen grundsätzlich positiv zu bewerten ist, zeigt sich im Schulalltag, dass durch die Struktur von Teams Schwierigkeiten für viele Schüler*innen entstehen. Sie müssen lernen, sich zu orientieren, um ihre Fächer, Chats, Besprechungen, Dateien oder Aufgabe zu finden. Es gibt unterschiedliche Lösungswege, die die Schüler*innen nehmen können. Die Menge an Teams erschwert es den Schüler*innen, sich einen Überblick zu schaffen.
  • Wo sind die Aufgaben: Bei mehreren Schüler*innen stellte ich fest, dass sie keinen Überblick über ihre Aufgaben hatten. Sie haben ca. 8-10 Teams, in denen die Aufgaben zumeist im Reiter Aufgaben sind. Manche Aufgaben werden aber direkt im Chat gestellt. Schwierigkeiten haben sie außerdem dabei, einen einfachen Zugang zu allen Aufgaben zu haben, am Besten mit klaren Zeiten, wann die Aufgaben fällig sind. Diese Übersicht gibt es bei Teams, sie hatten allerdings vergessen, wo sie die Aufgaben einsehen können.
  • Menge der Aufgaben: Im Vergleich zum Präsenzunterricht erwähnten viele Schüler*innen, dass sie sich überfordert fühlten. Dies sie unter Druck und gaben die Aufgaben teilweise aus Versagensängste nicht ab. Auch die Angaben, wie viel Zeit Schüler*innen für die Aufgaben benötigen sollten entsprach nicht den Erfahrungen aus der Einzelförderung. Aufgaben mit einer Zeitangabe 30 Minuten dauerten manchmal 45 Minuten oder auch länger in der Arbeit mit einem Schüler mit dem Förderstatus Lernen.
  • Bereitstellung von Materialien: Mit der Aufgabenstellung werden Materialien in Form von PDF Dokumenten, Word Dokumenten, Bilder, Videos aber auch Verweise zu anderen Internetseiten mitgeschickt. Die Schüler*innen stehen so vor den Anforderungen, mit diesen unterschiedlichen Formaten zurecht zukommen und diese zu bearbeiten.
    Zu einer Aufgabenstellung in Microsoft Teams müssen beispielsweise PDFs müssen geöffnet werden. Die Schüler*innen müssen die Aufgaben dann in einem Word-Dokument bearbeiten, das als Antwortblatt fungiert. Leider haben die Schüler*innen oft nur ein technisches Endgerät zur Verfügung und zusätzlich keinen Drucker. Dadurch müssen sie zwischen verschiedenen Fenstern hin- und herschalten. Mehrfach konnte ich auch beobachten, dass Schüler*innen ihre Word Texte auf dem Bildschirm abfotografierten und diese dann per Handy über Teams hochluden.
  • Differenzierung: Gerade für Schüler*innen mit Förderbedarf aber auch Augenmerkkinder sind Aufgaben wichtig, die zu bewältigen sind. So erleben sie eine Selbstwirksamkeit, durch die Lernprozesse besser wirken können. In der momentanen Situation stellte ich fest, dass Aufgaben manchmal differenziert waren oder in denen die Operatoren hervorgehoben waren. Differenzierung ist in der momentanen Situation besonders wichtig, da es weniger Möglichkeiten für die Schüler*innen gibt, sich durch nachfragen oder durch Tuschelgespräche mit den Sitznachbar*innen abzusichern.

Ein Zwischenfazit

Die Aufzählung ist lange nicht vollständig. Die letzten drei bis vier Wochen im Distanzunterricht mit der Möglichkeit für einige Schüler*innen in die Schule zu kommen haben aber gezeigt, dass das Lernen auf Distanz eine Reihe von Lernbarrieren vorhält, die noch beseitigt werden müssen. Neben dieser defizitorientierten Aufzählung muss aber auch festgehalten werden, dass die Lehrer*innen sich in einer Phase des Probierens und Erlernens neuer pädagogische Technik befinden. Es darf in keinem Fall darum gehen, hier die Ursachen an Personen zu binden, sondern sich in kollegialen Gesprächen schrittweise die Probleme anzusehen und versuchen Lösungen zu finden, die es allen Schüler*innen, im Sinne einer inklusiven Schule, das Lernen zu ermöglichen und ihnen sinnvolle sowie motivierende Lernangebote zu machen.