Schüler mit Förderbedarf im Distanzunterricht III

In dieser Reihe von Blogbeiträgen wird die Arbeit mit Schüler*innen mit Förderbedarf an einer Gemeinschaftsschule in Berlin-Neukölln dargestellt werden. Es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, sondern die Situation und Evolution dargestellt. Bisherige Beiträge werden nach Bedarf kommentiert aktualisiert (siehe Ende des Beitrages:

Welche Lösungen haben sich entwickelt?

In den bisherigen Beiträgen wurde die Ausgangslage und die Lernbarrieren besonders für Schüler*innen mit Förderbedarfen im Distanzlernen aufgezählt. Bereits im letzten Beitrag wurden exemplarisch einige Lösungswege an unserer Schule beschrieben, im Sinne von einer Best Practice Erfahrung. Es werden, trotz der Fülle von Möglichkeiten, nur drei Bereiche angesprochen:

  • Eine zeitliche Struktur geben
  • Digitale Endgeräte – eine Hürde
  • Design der genutzten Plattformen des digitalen Lernens

Eine zeitliche Struktur geben

In der nun siebten Woche haben wir es geschafft, Schüler*innen mit Förderbedarf aber auch Schüler*innen mit anderen sozial oder individuell induzierten Lernschwierigkeiten eine Struktur zum Lernen anzubieten. Diese Struktur setzt sich aus verschiedenen Kernelementen zusammen, je nach den Kompetenzen und Vorstellungen unserer Kolleg*innen gibt es natürlich Abweichungen. Kurz zusammengefasst würde ich das Ziel (in progress) beschreiben:

Das Ziel der Förderung ist es, Schüler*innen einen Rahmen zum Lernen anzubieten. Sie sollen unterstützt werden ihren Wochenplan selbstständig zu erstellen, Aufgaben immer selbstständiger bearbeiten zu können, ihre technischen Kompetenzen für den Umgang mit digitalen Geräten zu erweitern und einen temporären Lernraum in der Schule zu erhalten.”

Um dieses Ziel zu erreichen, ist die direkte und persönliche Arbeit mit den Schüler*innen wichtig. Insgesamt werden 90-95 Schüler*innen so erreicht. Insgesamt stehen an unserer Schule in der Mittelstufe hierfür ungefähr 8 Lehrer*innen und 4 Sonderpädagog*innen zur Verfügung. Da die Präsenzpflicht ausgesetzt ist, ist dies ein freiwilliges pädagogisches Angebot. Ist die Präsenz nicht erwünscht, werden die Schüler*innen per Telefon oder über Videochat angerufen. Wir haben uns in der Schule so organisiert, dass die Schüler*innen mit Lehrer*innen oder alleine in der Schule arbeiten können. Hier existieren jetzt drei Modelle, die sich aber auch ergänzen können:

  1. Einzelarbeit mit Lehrkräften (1 Mal pro Woche): Dies betrifft rund 40 Schüler*innen auf die wir ein besonderes Augenmerk legen. Bei ihnen kann eins oder mehrere Merkmale zutreffen: sie nehmen selten an Videokonferenzen teil, geben über einen längeren Zeitraum ihre Aufgaben nicht oder nur unvollständig ab, sie leben in beengten familiären Situationen, sie sind schuldistant oder haben keine befriedigende Ausstattung mit Endgeräten.
    In der Schule erhalten sie eine Unterstützung, sich innerhalb von Microsoft Teams zurechtzufinden und können Rückfragen zu den Aufgaben stellen.
  2. Einzelarbeit mit Sonderpädagog*innen (1-3 Mal pro Woche): Dies betrifft rund 30-35 Schüler*innen. Das vorrangige Merkmal ist, dass sie einen Förderbedarf haben und oft kommen Merkmale der ersten Gruppe hinzu.
    Die Arbeit mit dieser Gruppe ist intensiver. Neben der Unterstützung innerhalb Teams werden die gegebenen Aufgaben differenziert, es findet eine intensive Lese- und Sprachförderung statt, Schreibstrategien werden vermittelt, Beziehungsgespräche geführt, spezielle Aufgaben mit einem sonderpädagogischem Schwerpunkt gegeben und Differenzierungsvorschläge an die jeweiligen Fachlehrer*innen gemacht. Auch im Bereich der Computernutzung werden die Schüler*innen intensiv gefördert.
  3. Computerarbeitsplätze in der Schule (1 Mal pro Woche): Hier werden den Schüler*innen lediglich Computer zur Verfügung gestellt. Im Moment gilt dieses Angebot für rund 20 Schüler*innen. Wir unterstützen sie nur punktuell, wenn es z.B. Probleme mit dem Computer gibt oder es ein Problem bei dem Aufgabenverständnis gibt.

Digitale Endgeräte – eine Hürde

Ein großer Erfolg an unserer Schule war es, rund 200 Tabletts mit Tastatur und Stift an die Schüler*innen auszugeben. Dadurch gab es eine signifikante Verbesserung der Lernsituation der Schüler*innen. Sie können nun an einem teilweise angemessenen Endgerät arbeiten, auf Microsoft Teams zugreifen und besser an Videokonferenzen teilnehmen. Nur wenige Schüler*innen können auf eigene Computer zurückgreifen, Drucker sind bei den Familien nur in absoluten Einzelfällen vorhanden.

Wir haben an der Schule festgestellt, dass die Schüler*innen zahlreiche Barrieren digitaler Art und durch den Computer verursachten Barrieren haben:

  • Das Schreiben auf der Tastatur: auch wenn bereits seit März 2020 verstärkt auf Computer zurückgegriffen wurde haben, ist das Schreiben mit der Computertastatur sehr schwierig. Die Suche nach den Buchstaben, das Finden von Sonderzeichen und die Benutzung der Feststelltaste sind grundlegende Faktoren, die das Schreiben erschweren.
  • Das Passwort Feld: Auch wenn die Benutzung der Tastatur beherrscht wird verzweifeln die Schüler*innen am Passwortfeld. Die Unsicherheit, ob ich das Wort richtig geschrieben habe verlangsamt die Arbeit enorm.
  • Microsoft Teams auf Android Tabletts: Trotz der Bereitstellung von Tabletts gibt es enorm viele Probleme, Dokumente aus Teams zu bearbeiten. Aufgrund der gelieferten Einstellungen, stehen auf den Tabletts nur die Programme von Collabore Office zur Verfügung. Dies ist sehr begrüßenswert, da eine Schule die Vielfalt der Möglichkeiten digitalen Arbeitens fördern soll. Microsoft Teams als eine Unternehmenslösung, die keine freie Software ist, hat enorm viele Nachteile. In Teams müssen die Schüler*innen aber erst das Dokument auf das Tablett herunterladen, dann in Collabore Office öffnen, es dann bearbeiten, dann wieder abspeichern und erst dann wieder hochladen. Dadurch stehen Schüler*innen allgemein und Schüler*innen mit Förderbedarf im Besonderen vor Lernbarrieren.

Diese drei Probleme stellen exemplarisch die Schwierigkeiten an der Schnittstelle Technologie, Pädagogik und Lernen dar. Diese Probleme werden gerade in der Einzelförderung individuell geklärt. Als Sonderpädagog*innen nehmen wir dann Kontakt zu den Kolleg*innen auf und versuchen für häufig auftauchende Lernbarrieren zu sensibilisieren.

Exkurs: Schreiben am Computer

Viele unserer Schüler*innen haben bisher aus verschiedenen Gründen nicht genug Möglichkeiten gehabt, das Schreiben am Computer zu lernen und zu üben. Dies zeigt sich, dass sie oft anfangen sofort nach dem Lesen der Aufgabe die Antwort zu schreiben. Das Ergebnis ist oft ein gemischter Prozess, in dem das Leseverständnis der Aufgabe, das mentale Formulieren der Aufgabe, das Schreiben an sich und die Korrektur des Geschriebenen sich im wahrsten Sinne des Wortes verheddern. Die Schreibprozesse können in kleinere Einzelschritte aufgebrochen werden:

  1. Das sinnentnehmende Lesen der Aufgabe: Gerade beim Lesen digitaler Texte werden die Flüchtigkeit, seine Nichtpermanenz (durch das Scrollen ist die Aufgabe verschwunden) und die Unnahbarkeit der Aufgabe (das Unterstreichen wichtiger Details in der Aufgabe geht nicht ohne weiteres) zu großen Barrieren. Es gibt verschiedene Ansatzpunkt, um das Lesen bereits im Vorfeld zu vereinfachen, und zwar durch (1) das Hervorheben der Operatoren, (2) das Einhalten einer kurzen Satzstruktur, (3) andere visuelle Hilfen anbieten und sehr kleinschrittige Aufgaben. Nach dem Lesen ist eine Paraphrasierung der Aufgabe in eigenen Worten hilfreich, damit sie die Aufgabe in ihre eigene Sprache übersetzen.
  2. Das Vorformulieren des zu schreibenden Satzes: Viele Schüler*innen beginnen sofort nach dem Lesen einer Aufgabe, die Antwort aufzuschreiben. Hier ist ein virtuelles Stoppschild notwendig! Erst müssen die Schüler*innen sich grob überlegen, was sie aufschreiben wollen. Hilfe kann das klassische Notieren mit Stift und Blatt hilfreich sein. In einem weiteren Schritt sollen sie den Satz verbalisieren. Erst danach kann das eigentliche Schreiben beginnen.
  3. Der eigentliche Schreibprozess: Die Programme der Textverarbeitung bieten viele Ablenkungsmöglichkeiten: falsch geschriebene Wörter werden z.B. rot unterkringelt und Grammatikfehler blau unterstrichen. Wenn dann noch die falsche Sprache voreingestellt ist, leuchte der ganze Text rot. Ein Ansatz kann sein, dass die Schüler*innen erst einmal den ganzen Satz aufschreiben, ohne auf die Fehleranzeigen zu achten. Dadruch wird die Ablenkung verringert und der mentale Übersetzungsprozess des verbalen Satzes in einen geschriebenen Satz wird vereinfacht. Erst wenn der Satz zu Ende ist, können sie weiterarbeiten.
  4. Der Korrekturprozess: Steht der Satz in dem Dokument, können die Schüler*innen die üblichen Prozesse des Korrekturlesens anwenden. Ich habe z.B. die Korrekturfunktion aktiviert, damit die Fehler sichtbar werden. Zu jedem Fehler müssen sie dann zuerst überlegen, was der Fehler sein kann und erst dann die Korrekturfunktion anwenden. Oder besser noch, selbst zu korrigieren.

Plattform Design

Wir nutzen an der Schule größtenteils Microsoft Teams als Kollaborationsplattform. Sie ist ein angemessenes Werkzeug, das in unserem Fall schnell zur Verfügung stand und von den Schüler*innen genutzt werden kann. Dennoch stelle ich gerade im Hinblick auf Schüler*innen mit Förderbedarf immer mehr fest, dass das Benutzerinterface viele Hürden bietet:

  1. Übersichtlichkeit: Die Eingewöhnung in Teams benötigt Zeit, wie auch die SchulCloud oder der Lernraum Berlin. Dies betrifft sowohl die Lehrer*innen wie auch die Schüler*innen. Schnell haben Schüler*innen bis zu 10 Teams, in denen sie viele verschiedene Reiter haben: der Team-Chat, die Aufgaben, das Notizbuch, Umfragen und weitere. Bald ist es schwer, einen Überblick über alle Aufgaben zu haben (links am Rand ist meistens das Aufgabensymbol zu sehen). Manchmal sind wichtige Erläuterungen im Chat versteckt (und andere Schüler*innen schreiben viel, sodass die Suche lange braucht). Gerade für einen Förderbedarf Lernen sind die Lernbarrieren dieses Interfaces unüberwindbar. Auch ist es schwer die Änderungen und neuen Beiträge in einer Fülle von Teams zu finden. Dick gedruckte Team-Namen oder kleine rote Symbole können schnell übersehen werden.
  2. Die Art der Aufgabenstellung: Das Tempo mit dem wir uns als Lehrer*innen an komplexe Plattformen gewöhnen müssen ist immens. Dazu kommen viele verschiedene Teams, in denen wir Inhalte einstellen, kommunizieren müssen und “so ganz nebenbei” gute Aufgabenformate stellen müssen. In der aktuellen Situation stehen wir so stark unter Druck, dass die Zeit zum Erstellen und Erarbeiten schlichtweg fehlt. Dadurch kommt es schnell dazu, Arbeitsblätter einzustellen, die den analogen entsprechen. Es fehlt an Schulen oft die Zeit, andere Formate, die die interaktiven Möglichkeiten im Internet zu nutzen. Je nach Konfiguration von Teams sind diese Möglichkeiten oft eingeschränkt.

Ein Fazit?

Ein einfaches Fazit ist nicht möglich. Jeden Tag lerne ich dazu, welche Lernbarrieren Schüler*innen mit Förderbedarf haben. Es werden immer neue Herausforderungen auf uns zukommen und wir müssen verstehen, welche Voraussetzungen die Schüler*innen mitbringen und nachvollziehen können, wie sie mit den digitalen Lernplattformen umgehen. Erst dann können wir einen Weg finden, ihre Strategien zu entwickeln, produktiv digital zu arbeiten.