Umstellung in Berliner Wohnstätten

Unbeachtet von der Öffentlichkeit wird in Berlin im Moment die Neubegutachtung der bestehenden Angebote in Wohnstätten für behinderte Menschen durchgeführt. Dies sind zumeist stationäre Wohneinrichtungen, die Trägern der Freien Wohlfahrt gehören. Das Ziel dieser Neubegutachtung ist es, die Angebote und Entgelte vergleichbar zu machen. Die Neubegutachtung wird von der Berliner Senatsverwaltung für Soziales durchgeführt. Innerhalb der letzten Jahrzehnte ist eine Vielfalt an Angeboten im Bereich Wohnen gewachsen, die nicht übersichtlich sind. Das Land Berlin ist nach §75 Abs. 3 SGB XII verantwortlich Einrichtungen, die diese Leistungen durchführen, zu vergüten. In der Regel wird hier für eine Leistungsvereinbarung nach §77 SGB XII geschlossen, die in einer Kommission aus Senat und Vertretern der Wohlfahrtspflege (nach §79 SGB XII) verhandelt werden. Die einzelnen Träger mit Wohnstätten für behinderte Menschen haben dennoch einzelne Entgeltvereinbarungen mit der Senatsverwaltung, die stark variieren. In dem Bericht des Berliner Rechnungshofes vom Mai 2010 wird auf Seite 86 darauf verwiesen:

Entgegen dem Vorhaben einer berlinweit einheitlichen Kalkulation besteht noch immer eine erhebliche Bandbreite der Höhe der Maßnahmepauschalen von jeweils über 100 v. H. innerhalb gleicher Hilfebedarfsgruppen. Bei der HBG III (intern) ergeben sich sogar Differenzen von bis zu 165 v. H. zwischen Einrichtungen mit dem niedrigsten und höchsten Satz. Im Extremfall, HBG V (intern), ist ein Platz in einer Einrichtung jährlich um 53 564 € teurer als in der preiswertesten Einrichtung bei gleichem Hilfebedarf. Auch bei der HBG IV (intern) besteht noch eine Differenz von 51 523 € pro Platz und Jahr. Hieraus ergeben sich am Beispiel der Einrichtung mit den jeweils höchsten Sätzen und der dort vorhandenen Belegung von je vier betreuten Personen in den HBG IV und V (intern) Mehrausgaben gegenüber der Einrichtung mit den niedrigsten Maßnahmepauschalen von 420 000 € jährlich.

Seit mehreren Jahren wird in Berlin versucht, die Leistungen vergleichbarer und auch vergleichbar finanzierbar zu machen. Die Bezahlung der Leistung wird nach Hilfebedarfsgruppen (sic.) vorgenommen, in die behinderte Menschen nach ihrem Hilfebedarf eingeteilt werden. Das angewandte Verfahren zur Hilfbedarfsfeststellung in Berlin ist das sogenannte HMBW Verfahren.
Für die bessere Vergleichbarkeit wurde in den Jahren 2007/2008 die sogenannte 2. Hammerschick Untersuchung durchgeführt, die die Leistungen in den Wohnstätten statistisch erfasst. In einem weiteren Schritt wurde zwischen der Senatsverwaltung Soziales und den Verbänden der Freien Wohlfahrt beschlossen, die Erbringung der Leistungen über Zeitwerte zu berechnen. In der Folge kam es zu der Einigung, im Bereich Wohnen neue sogenannte Leistungsgruppen zu vereinbaren. Diese neuen Leistungsgruppen beschreiben im Detail die Grundprinzipien (z.B. zwei Milieu Prinzip, Normalisierungsprinzip etc.), die einzusetzenden Fachkräfte und anderes. Bei der Lektüre der Leistungsbeschreibung fällt auf, dass zwar eine Anknüpfung an aktuelle Entwicklungen im Bereich der Teilhabe existiert. Dennoch ist die Färbung eindeutig in einem medizinischen Verständnis von Behinderung verhaftet:

  • Wohnheime stellen ein stationäres Betreuungsangebot dar, das im Rahmen einer primär pädagogisch begründeten Förderung lebenspraktische Fähigkeiten und Fertigkeiten bzw. deren Stabilisierung und Erhalt vermittelt. (Punkt 1.2 Stationäres Wohnangebot)
  • Die Menschen mit Behinderung erhalten in den Wohnheimen unter Berücksichtigung des Normalisierungsprinzips ein Betreuungsangebot, das die größtmögliche Nähe zur allgemeinen Lebensform unserer Gesellschaft bietet.(Punkt 3.3.1 Normalisierung und Selbstbestimmung)
  • Der Prozess der Förderung und persönlichen Entwicklung wird unter Berücksichtigung der notwendigen pflegerischen Versorgung geplant und begleitet. Dabei wird der Entwicklungsstand des einzelnen, seine lebenspraktischen, sozialen, emotionalen, psychomotorischen, kognitiven und sensitiven Kompetenzen berücksichtigt. (Punkt 4.1 Förderung als ein geplanter Prozess)

In diesen Punkten wird eine Defizitorientierung in der Art und Weise der Leistungserbringung deutlich. Es geht um die Förderung von individuellen Kompetenzen, die generell wichtig ist. Vernachlässigt wird die konkrete Orientierung an und Unterstützung von sozialen Strukturen im Wohnumfeld. Die Bedürfnisse behinderter Menschen im Bereich Wohnen wurden bereits in der Kundenstudie von Monika Seifert beschrieben (make it work berichtete).
Seit Juli 2010 werden nun vor diesem Hintergrund alle 3 000 behinderten Bewohner/innen von stationären Wohnstätten neu begutachtet mit der Zielsetzung, am Ende eine budgetneutrale Umstellung der Leistungsvergütung. In einem Brief an die Einrichtungen vom April 2010 wird die Budgetneutralität beschrieben:

Mit dem Abschluss der Erhebung wird es wegen der Prämisse der budgetneutralen Umsetzung erforderlich sein, die träger/einrichtungsbezogene/berlinweite Budgetneutralität zu ermitteln und damit einer der wesentlichen Ausgangsvoraussetzungen für den gesamten Prozess und alle weiteren Schritte zu genügen.

Der dahinter liegende Gedanke ist, dass in den einzelnen Einrichtungen (oder einem Verbund von Einrichtungen) eine Umstellung der Leistungsvergütung stattfindet. Im Ergebniss wird also nach der „Umstellung“ in Berlin das Budget für die Leistungen im Bereich Wohnstätten gleich geblieben ist, weil in den einzelnen Einrichtungen das Budget gleich bleibt. Auf den Internetseiten des Senats wird aber nicht eindeutig dargestellt, wie auf lange Sicht, die Leistungen in unterschiedlichen Wohnstätten vergleichbar werden.
Was noch wichtiger erscheint ist die Frage, warum es in diesem ganzen Prozess nicht zu einer Einbeziehung behinderter Menschen kam? Sicher, die behinderten Bewohner/innen in den Wohnstätten werden alle direkt „befragt“. Aber eine Berücksichtigung im Prozess der Planung wird an keiner Stelle erwähnt. Diese wird aber nach Artikel 4 Abs. 3 „Allgemeine Verpflichtungen“ der UN Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ausdrücklich gefordert:

Bei der Ausarbeitung und Umsetzung von Rechtsvorschriften und politischen Konzepten zur Durchführung dieses Übereinkommens und bei anderen Entscheidungsprozessen in Fragen, die Menschen mit Behinderungen betreffen, führen die Vertragsstaaten mit den Menschen mit Behinderungen, einschließlich Kindern mit Behinderungen, über die sie vertretenden Organisationen enge Konsultationen und beziehen sie aktiv ein.

In Berlin zeigt sich somit wieder einmal, dass in Deutschland noch ein langer Weg zu gehen ist, bis behinderte Menschen über ihr Leben zu bestimmen. Wie wäre dieses Verfahren beispielsweise gelaufen, wenn es den Mut gäbe, im Rahmen des SGB XII Strukturen zu schaffen, die behinderte Menschen in die Entscheidung einbeziehen? Hierfür müssten allerdings einige Artikel geändert werden, die nur die Kostenträger und Leistungserbringer einbeziehen. Ein weiterer wichtiger Aspekt wäre, ein Einschätzungssystem der erforderlichen Unterstützung zu entwickeln, das nicht die Defizite von Menschen auflistet.
So long….


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