Kundenstudie Wohnen aus Berlin

Die Kundenstudie „Bedarf an Dienstleistungen zur Unterstützung des Wohnens von Menschen mit Behinderung“, die Frau Monika Seifert von der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin (KHSB) am 21. April 2010 veröffentlicht hat ist beeindruckend. Nicht nur, dass sie mehr als 400 Seiten umfasst, sondern auch die verschiedenen Sichtweisen, die eingenommen wurden und miteinander in Beziehung gesetzt wurden, machen sie zu einem wertvollen Dokument.
Inhaltlich erfasst sie den gegenwärtigen qualitativen Stand der Berliner Behindertenhilfe im Bereich Wohnen von geistig und mehrfach behinderten Menschen. Darüber hinaus ist sie ein Beispiel, wie mit Hilfe der BRK eine Studie entworfen werden kann.

Ausgangslage

Die Studie erfasst die Sichtweisen behinderter Menschen, deren Angehörigen, der entsprechenden Verwaltungen und der Träger von sozialen Diensten. Ausgangspunkt der Studie ist die im SGB IX verankerte Zielsetzung der Selbstbestimmung und gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Einen starken Einfluss nehmen die BRK und die ICF. Die teilhabeorientierten rechtlichen Vorgaben der Sozialgesetzbücher und der BRK stellen die Träger und Anbieter von Dienstleistungen vor neue Herausforderungen.
Die Prägung der Berliner Wohnversorgung ist heute bereits durch einen hohen Anteil ambulanter Versorgung gekennzeichnet. Von 7.212 behinderten Erwachsenen nahmen Anfang 2009 46% stationäre und 54% ambulante Wohnangebote in Anspruch.

Fragestellung der Studie

Die zentrale Frage der Studie ist, wie die Strukturen und Prozesse der Behindertenhilfe im Bereich Wohnen weiterentwickelt werden können. Die Leitprinzipien in der Beantwortung waren die Lebensweltorientierung, die Partizipation des Hilfeadressaten und der Gemeinwesenorientierung, die sich aus dem ICF und der BRK ergeben. Daraus ergaben sich die Forschungsschwerpunkte der Studie:

  1. Qualität der gegenwärtigen Dienste im Bereich Wohnen
  2. Stellenwert der Nutzer/innen
  3. Bedeutung des Sozialraumes
  4. Weiterentwicklung der wohnbezogenen Unterstützungsleistungen

In einem mehrperspektivischen Ansatz wurden landesweite Erhebungen und Untersuchungen auf Bezirksebene (Tempelhof-Schöneberg, Marzahn Hellersdorf und Pankow) durchgeführt.

Feststellungen

Wohnbedürfnisse behinderter Menschen

Von den 253 befragten behinderten Menschen war die Hälfte zufrieden mit ihrer momentanen Wohnsituation. In Wohngemeinschaften und Wohnheimen waren 60% und im betreuten Einzelwohnen 48% voll zufrieden. Beim Einzelwohnen waren die Art der Wohnung, das Zusammenleben in der Gruppe, soziale Beziehungen und die Selbstbestimmung wichtige Kriterien. Negativ wurde nicht die Wohnform an sich, sondern die Bedingungen und das soziale Umfeld angemerkt. An Gruppenwohneinrichtungen wurden negativ angemerkt, dass die Mitbewohner/innen nicht selbst gewählt werden konnten und dass die Beziehung zu den Betreuer/innen schwierig sein kann. Gewünscht wird eine stärke Teilhabe am sozialen Wohnumfeld. Ein wesentlicher Veränderungswunsch geht in Richtung eigene Wohnung mit der notwendigen Unterstützung.

Sicht der Behindertenhilfe

36 Träger haben sich an der Erhebung beteiligt. Hier wird besonderer Handlungsbedarf im Bereich älterer Menschen mit Behinderung, psychische Erkrankungen und hohem Pflegebedarf gesehen. In der fachlichen Perspektive haben personenbezogene Unterstützungsarrangements Priorität, vor allem in Vernetzung regionaler Angebote. Häufig erwähnt wurde die Problematik der Auswärtsunterbringung.

Sicht der Verwaltung

Sieben Fallmanager wurden im Rahmen der Studie befragt und ergänzende Gespräche mit Vertretern der Sozialverwaltung geführt. Sie führten an, dass behinderte Menschen auf die bestehenden Angebote zurückgreifen. Angebotslücken bestehen bei Doppeldiagnosen, Suchverhalten und autistischen Beeinträchtigungen. Bei der Schnittstelle zur Pflege (ältere behinderte Menschen und schwerstbeeinträchtigte Menschen) wird die Begründung der Eingliederungshilfe mit Verweis auf das SGB XI schwierig. Der Einsparungsdruck wird in einigen Bezirken als Belastung für die Rahmenbedingungen wahrgenommen. In der Feststellung des Hilfebedarfs werden neue Herausforderungen erwartet.

Behinderte Menschen mit Migrationshintergrund

Ein Schwerpunkt wurde auf diesen Personenkreis gesetzt, da das Zusammenleben sichtbar ist und die interkulturelle Öffnung von den bisher wenig sensibilisierten Diensten der Behindertenhilfe erforderlich wird. Hier wird eine unterschiedliche Wertehaltung gegenüber deutschen Bevölkerungsgruppen deutlich, vor allem durch die familiären Unterstützungsleistungen. Diese wird aber mit dem demografischen Wandel bei Migranten immer schwieriger und in den nächsten Jahren wird eine Nachfragezunahme erwartet. Hier tut sich eine neue Schnittstelle zwischen der Behindertenhilfe und der Integrationsarbeit (bspw. durch Migrantenorganisationen) auf. Die Befragten sehen einen besonderen Handlungsbedarf in der interkulturellen Öffnung der Behindertenhilfe.

Handlungsbedarf

Sicht der behinderten Menschen

  1. Leben in der eigenen Wohnung ist erwünscht;
  2. soziale Teilhabe, Selbstbestimmung, Bedürfnissorientierung und Respekt;
  3. Verfügbare Informationen über Wohnen und Unterstützung;
  4. Fortbildungen zur Kompetenzentwicklung für Partizipation und selbstständiges Wohnen.

Fachliche Sicht

  1. Entwicklungen im Versorgungssystem in der Umsetzung des Grundsatzes „ambulant vor stationär“ haben noch strukturelle Mängel. Bei den zu betreuenden Personengruppen wird einerseits ein erhöhter Bedarf (Bereich Pflege konstatiert) und die Versorgung „neuer“ Personengruppen.
  2. Die Umsetzung der Leitideen Partizipation, Teilhabe und Sozialraumorientierung sind bekannt, in der Umsetzung werden sie noch nicht systematisch umgesetzt. Auch wenn die Interessen behinderter Menschen engagiert vertreten werden, gibt es Herausforderungen in der Teilhabe an ihrer Evaluierung und Einbeziehung.
  3. In der Hilfebedarfsermittlung geht die Behindertenhilfe mit großen Leistungsunterschieden um. Dies ist vor allem bei Menschen mit hohem Pflegebedarf der Fall.
  4. Bei den Weiterentwicklungen er Angebote besteht ein Bedarf bei der Vernetzung der Angebote und eine Gesamtplanung für Berlin mit einer klaren sozialpolitischen Zielsetzung.

Inklusionsfördernde Strukturen

  1. Die Studie stellt fest, dass die Behindertenhilfe Tendenzen zur Separation zeigt. Für die Realisierung sozialräumlicher und inklusiver Angebote ist eine Öffnung hin zum städtischen Raum geboten. Die bestehenden vielfältigen Angebote (Wohnen, Arbeit, Bildung, Freizeit) sollten geöffnet werden.
  2. Die fehlende Finanzierung fallunspezifischer Arbeit fördert die Fokussierung auf das Individuum und verhindert die sozialräumliche Öffnung. Hier müssen die Konzepte der Behindertenhilfe mit den Fachkonzepten der Sozialraumorientierung vernetzt werden.

Forderungen
Die Studie sieht in drei wesentlichen Bereichen Ansätze zur Weiterentwicklung der Behindertenhilfe im Wohnen:

  1. Individuum und Lebenswelt: Die individuellen Ressourcen müssen gestärkt werden, um eine Basis für ein selbstbestimmtes Leben zu bilden. Persönliche Netzwerke und Erschließung von Ressourcen im Stadtteil sind hilfreich.
  2. Hilfesystem und Sozialraum: Die Dienste der Behindertenhilfe haben einen Entwicklungsbedarf im Bereich Inklusion, mit einem zentralen Bedeutung der Mitarbeiter von Einrichtungen und Trägern. Die Unterstützungsstrukturen müssen sich noch mehr an den kleinräumlichen Gegebenheiten in den Bezirken orientieren. Hierbei ist die Kooperation und Vernetzung verschiedener Angebote hilfreich. Um dies Realisieren zu könne ist allerdings die Novellierung der gesetzlichen Rahmenbedingungen des SGB XII erforderlich, damit es eine entsprechende Finanzierung der Hilfen geben kann.
  3. Flankierende Maßnahmen: Für die berlinweite Umsetzung sind Steuerungs- und Monitoringmechanismen notwendig. Hier könnte eine Zusammenarbeit mit der Monitoringstelle des Deutschen Institutes für Menschenrechte möglich sein.

Eckpunkte einer Stratgie

Die Eckpunkte der Strategie der Weiterentwicklung fordern, in einer Steuerungsrunde die rechtlichen Vorgaben der Sozialgesetzbücher, der BRK und der ICF zu berücksichtigen. Zusammengesetzt sollte diese Runde aus Politik, Senatsverwaltung, behinderten Selbstvertretern und der Behindertenhilfe. In der Steuerungsrunde sollen die Ziele und der Aktionsrahmen definiert werden, die sowohl die Lebenswelt der Individuen und den Sozialraum mitdenken. Im Anschluss an die Umsetzung soll Best Practice berücksichtigt werden. Solche Ansätze sind in der inklusiven Entwicklungszusammenarbeit bekannt. Dies ist eine wichtige Möglichkeit der Umsetzung von Menschenrechten behinderter Menschen und sollte unbedingt Nachahmer/innen finden.

So long….


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